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Hören und Sehen vergeh‘n

Andreas Herold und Ulrich Schult

Andreas Herold steht in seinem Gärtchen und strahlt übers ganze Gesicht, als wollte er sagen: "Ist das nicht herrlich." Rosen und Flox blühen um die Wette. Der Rasen ist akkurat geschnitten. Ein kleiner Wasserfall plätschert in den Miniteich. Und das Gemüse gedeiht wahrhaft prächtig. Stolz geht Herold von Beet zu Beet. "Zwiebeln, Gurken, Tomaten, Kürbis", will er in seiner Begeisterung sagen. Laut ist es, was der 48-Jährige artikuliert, aber verstehen kann es keiner. Denn Andreas Herold leidet am sogenannten Usher-Syndrom. Er wurde gehörlos geboren.

Von klein auf lernte er die Gebärdensprache – die Muttersprache der Gehörlosen –, absolvierte die entsprechende Spezialschule. In Borna bei Leipzig lernte er Gärtner, arbeitete elf Jahre in diesem Beruf, verlor dann aber den Job und lebte danach vier Jahre mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen – bis kurz nach der Jahrtausendwende "der große Schub" kam. Andreas Herold erblindete. Mit dem rechten Auge sieht er so gut wie nichts mehr, links geht es noch einigermaßen, aber das Gesichtsfeld ist sehr stark eingeschränkt. Und Manuela Soblik, die das Gespräch in der Gebärdensprache dolmetscht, muss in einer ganz bestimmten Entfernung stehen, sonst wird es schwierig für Andreas Herold.

Vor fast drei Jahren kam der Bornaer nach Radeberg ins ambulant betreute Wohnen des Taubblindendienstes der evangelischen Kirche in Deutschland e. V. Er fühle sich wohl hier, erzählt er. Dass in der benachbarten Sparte ein Gärtchen frei wurde, sei natürlich das Schönste. In Borna hatte er weite Wege zum Garten, hier sind es nur ein paar Schritte um die Ecke. "Wenn ich mal völlig blind bin, kann ich hier trotzdem noch in den Garten gehen." Herold weiß, dass es so kommen wird. Sein älterer Bruder ist bereits erblindet. Er wohnt mit seiner Frau im gleichen Haus. Die Brüder können sich nur noch per Lormen unterhalten, dem Handalphabet der Taubblinden. Beim Lormen-Alphabet sind die Buchstaben bestimmten Finger- und Handpartien zugeordnet. Ein Tippen auf den Daumen steht beispielsweise für ein A, zweimal tippen für ein Ä.

Andreas Herold kann vieles noch allein bewältigen, den Einkauf im nahen Supermarkt, teils auch den Haushalt, den kurzen Gang ins Gärtchen, selbst den längeren Weg zum Bahnhof, wenn er zu seiner Mutter nach Borna fährt. Die Reise zur Mutter verlangt aber im Vorfeld allerhand Organisation. Denn zum Umsteigen in Dresden und Leipzig braucht Herold Helfer, die bestellt werden müssen. Und wenn es schon dämmrig oder gar finster ist bei seiner Rückkehr in Radeberg, muss er abgeholt werden. Arztbesuche, Termine bei Ämtern und Ähnliches kann er nur in Begleitung absolvieren. Ist aber alles kein Problem, die Mitarbeiter des Taubblindendienstes – Fachkräfte, die die Gebärdensprache und das Lormen beherrschen – sind dann zur Stelle. So viel Selbstständigkeit wie möglich, so viel Hilfe wie nötig, das ist das Prinzip im ambulant betreuten Wohnen für Taubblinde. Die Radeberger waren die Ersten in Deutschland, die damit begannen.

So etwas völlig Neues funktioniert nur, wenn jemand mit einer Vision da ist, mit Leidenschaft, mit einer gewissen Besessenheit. In Radeberg ist das die heute 73-jährige Pastorin Ruth Zacharias. Sie hat ihr Leben den Taubblinden verschrieben. Sie sieht selbst seit dem zehnten Lebensjahr nichts mehr und sagt: "Taubblind ist das Schlimmste an Behinderung, isoliert in totaler Stille, lebend in Dunkelheit und ohne Farbe, ausgesperrt von der alltäglichen menschlichen Kommunikation und von 80 Prozent aller Eindrücke, die ein Mensch ohne diese Behinderungen aufnimmt"" Vor 51 Jahren begann die kleine Frau ihre Arbeit im christlichen Blindendienst der evangelischen Kirche. Ab 1990 machte sie Radeberg zu einem Anlaufpunkt für Taubblinde. Aus einem leer stehenden, ruinösen Entbindungsheim wurde die Villa Storchennest zur Begegnungs- und Beratungsstätte und auch zum Gästehaus für jährlich einige Hundert Taubblinde und Schwerstbehinderte aus ganz Deutschland. Einmalige Geruchs- und Tasterlebnisse bietet der rings um das Storchennest entstandene große botanische Blindengarten. Wenn dessen 700 Duftpflanzen Winterschlaf halten, lädt ein Dufthaus ein.

Das Projekt ambulant betreutes Wohnen lag Ruth Zacharias besonders am Herzen, um Betroffene aus ihrer Isoliertheit herauszuholen. Vor acht Jahren ersteigerte der Taubblindendienst gegenüber dem Storchennest einen Altbau und baute darin fünf Wohnungen aus. Erst kam aus Dresden der Rat, man solle sich um ein Darlehen bemühen und dieses dann mit den Mieten abzahlen, erzählt Geschäftsführerin Ruth Zacharias. Doch dann förderte der Freistaat das Vorhaben als Pilotprojekt großzügig. Inzwischen gibt es in der Nachbarschaft weitere sechs Wohnungen. Helmut Kreutz, bekennender Christ und Unternehmer aus der mittelhessischen Kleinstadt Haiger, spendete dafür über eine Million Euro. Ruth Zacharias sieht darin so etwas wie göttliche Fügung. Vor drei Jahren zogen die Ersten in den Neubau ein. Ambulant betreut werden inzwischen auch fünf Taubblinde in ihren Privatwohnungen in Radeberg, Dresden und Elstra.

Ulrich Schult, ein kräftiger Mann mit grauem Haar und dichtem Schnauzer, nimmt die Sonnenbrille ab, wischt sich den Schweiß von der Stirn und stöpselt das Hörgerät in die Ohren. Er war einkaufen mit seiner Begleiterin Waltraud Schreier oder besser gesagt, sie mit ihm. Wurst, Käse, Brot, Äpfel, Möhren, Kugelrettich. Und einen Kasten Bier. Den habe er selbst hochgeschleppt, sagt er. Schult wohnt im ersten Stock eines Plattenbaus unweit vom Storchennest. Das Einkaufen sei schwierig, dauernd werde umgeräumt, dann stünden die Waren woanders, und die Haltbarkeitsdaten könne er ohnehin nicht lesen.

Der 56-Jährige spricht sehr laut, wie die meisten Schwerhörigen. Sein geringes Hörvermögen ist angeboren. Es ließ mit der Zeit immer mehr nach. Als Jugendlicher merkte er, dass auch mit den Augen etwas nicht stimmt. Zuerst wurde er nachtblind, später verkleinerte sich das Gesichtsfeld bis auf fünf Grad. Das ist nicht mehr als der Blick durch die Papprolle, um die das Toilettenpapier gewickelt ist. Dieser Blick ist zudem noch sehr unscharf. Früher konnte er den Leuten vom Mund ablesen, was sie sagten. Jetzt muss er sich auf das Wenige konzentrieren, was er verstärkt durch moderne Technik hört. "Das strengt an. Aber ich bin wenigstens in der glücklichen Lage, selbst sprechen zu können", sagt Schult, ein gelernter Feinmechaniker, der 17 Jahre im Dresdner Schreibmaschinenwerk arbeitete und nach einer Umschulung noch ein gutes Jahrzehnt in der Telefonzentrale des sächsischen Innenministeriums in Lohn und Brot stand.

Ambulant betreut wird Schult seit sechs Jahren. Für die meisten Besorgungen und Wege braucht er einen Begleiter. Montags zur Fitness, mittwochs zum Schwimmen, donnerstags zum Wocheneinkauf, sonntags zum Gottesdienst. Nur die 300 Meter von seiner Wohnung bis zur Storchennest-Villa bewältigt er mit seinem Blindentaststock allein – noch. Denn auch er sieht immer schlechter. Die Ampel signalisiert Grün mit einer Vibrationsvorrichtung. "Dafür wurde lange gekämpft", sagt Schult. Oft geht er in den botanischen Blindengarten. "Ich liebe ihn, ich gehe da bewusst langsam und entdecke immer was Neues." Manchmal streicht er über die Tierskulpturen, "das fühlt sich gut an".

Wichtig ist Schult der Kontakt mit den anderen Bewohnern. Werktags isst er mit ihnen zu Mittag. "Da freuen wir uns, mal richtig zu plappern." Längst hat auch er das Lormen gelernt, das für manche die einzige Kommunikationsform ist. Und wenn das nicht reicht und es Schult mal "rappelt", dann telefoniere er "alle Bekannten durch". Mit dem Hightech-Hörgeschädigtentelefon geht das. "Die werden immer besser, kosten aber zwischen drei- und viertausend Euro." Für einen Bezieher von Erwerbsunfähigkeitsrente und Blindengeld unerschwinglich. "Da muss man lange drum kämpfen bei der Krankenkasse." Schult hatte Glück dank guter Beratung. Überhaupt macht die Technik vieles möglich. Beispielsweise Kommunikation per E-Mail: Schreiben ist kein Problem, das hat Schult gelernt, aber das Lesen. Die Lösung: Er kopiert die Texte auf Word und vergrößert die Schrift auf Daumenbreite, die kann er dann gerade noch lesen. Und wenn das in Zukunft nicht mehr geht, will er die Braille-Blindenschrift lernen und den PC entsprechend umrüsten.

Man hört Schult nicht über sein Schicksal jammern. "Man muss die Behinderung annehmen", sagt er, das schaffe jedoch nicht jeder. Geschätzt leben in Deutschland 2 500 bis 6 000 Taubblinde. Genau weiß das niemand, weil das nicht offiziell erfasst wird. In Schwerbehindertenausweisen steht immer noch "gl" für gehörlos oder "bl" für blind, obwohl sich das EU-Parlament schon 2004 für die Anerkennung der Taubblindheit als eigenständige Behinderung ausgesprochen hat. "Wir wollen endlich das "tbl" im Ausweis", sagt Ulrich Schult und verspricht sich davon die Festlegung entsprechender Rechte.

Im Garten hat Andreas Herold inzwischen das wenige Unkraut gezupft. Gießen will er erst morgen. "Das ist für alle", sagt er und zeigt noch mal mit ausgestrecktem rechten Arm über die Beete, "da können wir Leckeres kochen." Selbst noch etwas tun zu können, das ist nicht nur Herold wichtig. Zusammen mit anderen Betreuten hat er am Vormittag Lavendel geschnitten. Später werden sie damit Duftsäckchen füllen für den Verkauf auf einem Basar oder zum Verschenken. Mit dem Spatzenhof werden sich bald neue Möglichkeiten eröffnen. Das einstige Wirtschaftsgebäude wurde ebenfalls saniert. Freistaat, Diakonie, die Aktion Mensch und viele Spender haben den Umbau finanziert. Zur Ausrüstung fehlt noch allerhand. AAber mit unseren Förderern werden wir das Stück für Stück schaffen, wir finanzieren fast die Hälfte unseres Haushalts mit Spenden unseres Freundeskreises", sagt Ruth Zacharias. Der "Spatzenhof" soll zur Stätte für Bildung, Beschäftigung und Bewegung werden. Auch Gottesdienste werden hier stattfinden.