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Selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden

Für Sehende und Hörende ist es kaum vorstellbar, taub oder blind zu sein. Aber nahezu unmöglich ist es uns, sich auszumalen, wie Menschen ihr Leben einrichten, die bereits taub sind, sich aber darauf einstellen müssen, über kurz oder lang auch noch das Sehvermögen einzubüßen.

Die Mediziner sprechen vom Usher-Syndrom, das bis zur völligen Taubblindheit führt.

Kann man mit einer derart schweren Behinderung noch ein selbstständiges Leben führen?

Dieser Frage mussten sich auch Elke und Lutz Herold stellen. Beide leiden am Usher-Syndrom und haben sie für sich mit einem Ja beantwortet, wohl wissend, dass das ohne Hilfe nicht möglich ist. Diese Hilfe hat ihnen der Taubblindendienst mit seiner Radeberger Begegnungsstätte "Storchennest" angeboten. Im Juli will das Ehepaar deswegen von Borna nach Radeberg umziehen.

Auf das behinderte Ehepaar und seinen 13-jährigen gesunden Sohn wartet auf dem Dammweg, nur wenige Meter vom "Storchennest" entfernt, in einem frisch sanierten Wohnhaus eine Dreizimmerwohnung. Der Taubblindendienst e.V. hat das Haus vor zwei Jahren mit Spendengeldern ersteigert und inzwischen für 180 000 Euro mit fünf Wohnungen eigens für taubblinde Menschen einrichten lassen, die darin ambulant betreut wohnen sollen.

Es ist ein bundesweit bisher einmaliger Versuch, maßgeblich unterstützt vom sächsischen Sozialministerium. So übernahm der Freistaat auf dem Dammweg 90 Prozent der Sanierungskosten. Die restlichen zehn Prozent für den Bau trägt die Diakonie, denn der Taubblindendienst ist ein Fachverband im Diakonischen Werk der evangelischen Kirche.

Die Absicht, Taubblinden in Radeberg eine Wohnmöglichkeit mit ambulanter Betreuung zu schaffen, ist so alt wie das 1994 eröffnete Storchennest. "Denn der Bedarf in Deutschland ist groß", ist Ruth Zacharias, Geschäftsführerin des Taubblindendienstes überzeugt. Jetzt soll diese Absicht verwirklicht werden, obwohl einige bürokratische Hürden noch zu nehmen sind und auch das Thema Arbeit für Taubblinde derzeit noch heiß diskutiert wird.

Für die 40-jährige Elke Herold ist Letzteres keine Frage. "Ich will und kann arbeiten", sagt die gelernte Schneiderin. Und wenn es nur darum gehe, im benachbarten Botanischen Blindengarten Unkraut zu zupfen. Auch ihr vier Jahre älterer Mann möchte auf jeden Fall tätig sein. Schließlich sei es auch die Flucht vor der Langeweile, die ihn und seine Frau nach Radeberg führen, erzählt er in Gebärdensprache.

Dass es dem gelernten Schlosser nicht an der nötigen Kreativität fehlt, stellte er bereits unter Beweis. Für sich und seine Frau bastelte er ein Gerät, dass beiden helfen soll, die Punktschrift zu erlernen. Die Punktschrift stellt die Brücke dar, über die beide künftig auch mit dem Computer arbeiten können.

"Das spornt an", ist Ruth Zacharias sicher, denn zwei Jahre brauche man, um diese Blindenschrift perfekt zu beherrschen.Auch ein Mobilitätstraining steht auf dem Programm. Alles, um beiden ein hohes Maß an Selbstständigkeit zu bewahren.

"Und zur Sicherheit sind wir da", erläutert die Geschäftsführerin. Für sie sind die Eheleute die idealen Partner, um das Modellvorhaben zu starten. "Herolds sind eine Ausnahme, sie schätzen ihre Lage richtig ein", begründet Ruth Zacharias. Außerdem handeln sie jetzt, solange sie noch etwas sehen. "Andere Taubblinde können die Erfahrungen der Herolds nutzen", hofft sie.

Elke und Lutz Herold haben sich schon im vergangenen September für den Umzug nach Radeberg entschieden. "Wir können beide immer schlechter sehen, die Eltern sind alt. Bei Arzt- oder Ämterbesuchen benötigen wir eine Begleitung, aber in Borna gibt es keinen Blindenverein." Außerdem sorgen sich beide um ihren Sohn, um dessen schulische Belange sich jetzt noch die Oma kümmert. Der anstehende Schulwechsel ist es auch, der den Umzugstermin diktiert. Schließlich soll der 13-Jährige nicht mitten im Schuljahr die Schule wechseln.

Mit der Gebärdensprache hilft der Dresdner Pfarrer Raik Fourestier bei der Verständigung mit dem tauben Ehepaar, das nun auch noch seine Sehfähigkeit verliert.

Das Usher-Syndrom ist eine erblich bedingte Kombination von langsam fortschreitender Netzhaut-Rückbildung und bereits früh einsetzender Innenohrschwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit von Geburt an. Es ist benannt nach dem englischen Augenarzt Charles H. Usher, der 1914 die rezessive Vererbung des Syndroms beschrieb. Vom Usher-Syndrom sind nach heutigen Schätzungen aus Skandinavien und den USA drei bis vier von 100.000 Personen betroffen. Experten rechnen damit, dass es in Deutschland etwa 5.000 Usher-Betroffenene gibt. Genaue Zahlen liegen nicht vor, weil diese Doppelbehinderung, die bis zur Taubblindheit führt, von den Behörden nicht erfasst wird.

Am 30. April gründete sich im Radeberger Storchennest eine Usher-Selbsthilfegruppe. Es ist die neunte in Deutschland.

Bernd Lichtenberger