»Lassen Sie sich schieben von Gott«
Der Balkon vor ihrem Arbeitszimmer ist ein Reich der Düfte. Fenchel, Edelwicken, Zitronenthymian, Myrte, Salbei, Liebstöckel wachsen in Töpfen und Kästen. Ruth Zacharias tastet nach dem Rand eines Blumenkastens, schüttet Wasser aus einer Gießkanne hinein. Sie bewegt die Hände in den Blättern, hält sie vor die Nase. »Man atmet gleich tiefer«, sagt sie. Für sie sei das die beste Art, sich in den Pausen von ihrer Arbeit zu erholen, sagt sie.
Mit zehn Jahren ist Ruth Zacharias erblindet. Am 12. August ist die evangelische Pastorin, die den Taubblindendienst der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) leitet, 70 Jahre alt geworden. Vor dem Haus auf dem Gelände des »Storchennest«, der Bildungs- und Ferienstätte für Taubblinde, hörsehbehinderte und mehrfach behinderte Blinde in Radeberg bei Dresden, hat sie einen speziellen Garten anlegen lassen.
»Es ist der kleinste unter den 141 botanischen Gärten, aber der einzige Botanische Blindengarten.« Und auf den rund 20000 Quadratmetern – fast so viel wie drei Fußballfelder – gedeihen vor allem Duftpflanzen, mehr als 700 Arten. Riechen und Tasten sind für Taubblinde enorm wichtig. Daher hat sich Ruth Zacharias selbst zur Expertin auf diesem Gebiet gebildet. »Ganze Urlaube habe ich nur mit Gartenbüchern zugebracht.« Mittlerweile, sagt sie, sei ihr diese Arbeit zu einer zweiten Berufung geworden.
Ihre erste Berufung ist die Seelsorge für Taubblinde. 1963 begann sie, hat aber eine Vorgeschichte, die das Ganze erst verständlich macht. Aufgewachsen auf einem Bauernhof in Mölschow auf der Insel Usedom, in christlichem Geist erzogen, schien ihr Weg nach Abschluss der Oberschule für Blinde in Königs Wusterhausen festzustehen. Dolmetscherin sollte die sprachbegabte junge Frau werden. Doch es kam anders.
Sie hatte die Geborgenheit in einer Jungen Gemeinde außerhalb der Schule und einen beeindruckenden Seelsorger erlebt. Entschied sich nun für ein bewusst gelebtes Christentum. Der Wendepunkt in ihrem Leben. Sie wolle in den kirchlichen Dienst, erklärte sie den erstaunten Lehrern und Eltern. Noch ohne zu wissen, was sie als Blinde da überhaupt konkret tun konnte. Nach einer Ausbildung zur Gemeindehelferin und Katechetin ging sie in die Evangelische Bücherei und Druckerei für Blinde nach Wernigerode, lernte Schriftsetzerin und Korrektorin für Punktschrift.
Im Dezember 1962 berichtet ihr Pfarrer Georg Hentsch, der Leiter des Christlichen Blindendienstes, von immer mehr Taubblinden, die er entdeckt. Er fragt sie, ob sie die seelsorgerische Arbeit für sie übernehmen könne. Es sei seltsam gewesen, so erinnert sie sich: »In gleicher Sekunde wusste ich unangefochten: Das ist es, was Gott von dir will.« Sie fragt, was sie da tun solle. Das wisse er auch nicht, entgegnet Pfarrer Hentsch und setzt hinzu: »Lassen Sie sich schieben von Gott.« Ruth Zacharias begreift: Sie kann sich leiten lassen, muss nicht ¬alles selber planen und bestimmen, vielmehr sehr aufmerksam die Impulse wahrnehmen für diesen Beginn. Dies wird zum Prinzip ihrer Pionier¬arbeit.
Sie studiert Theologie, damals die einzige Frau und einzige Blinde am Paulinum in Berlin. Lernt das Lormen – ein Alphabet, getastet in die Hand des Taubblinden. Fährt durch die DDR, besucht Taubblinde. Menschen, die, wie sie beschreibt, in »pechschwarzer, tonloser Nacht« leben und für die Kommunikation auf andere angewiesen sind. Organisiert Seminare mit deren Familien. Und macht die paradoxe Erfahrung: Ihre Be- hinderung, die Blindheit, erweist sich als Vorteil. Einmal sagen ihr Eltern taubblinder Kinder: »Wie gut, dass Sie wenigstens blind sind; dann sind Sie uns ein bisschen näher.«
Bis heute ist die Zahl dieser Behinderten in Deutschland nicht bekannt. Zwischen 2500 und 6000 bewegen sich die Schätzungen. 2004 hat das EU-Parlament Taubblindheit als eigene Form der Behinderung anerkannt.
Als Ruth Zacharias 1989 in Radeberg das »Storchennest« übernimmt, ein ehemaliges Entbindungsheim, ist es ein heruntergekommener Gebäudekomplex. Unter ihrer Leitung wird es ein sechs Gebäude umfassendes Zentrum für Beratung, Seminare und Erholung. 2008, mit 68 Jahren, hat sie noch einmal mit Pionierarbeit begonnen: Unweit des »Storchennests« hat sie ein Haus ausbauen lassen – die erste Stätte ambulant betreuten Wohnens für Taubblinde. Sechs Frauen und Männer leben dort inzwischen. Beschäftigt werden sollen sie im Blindengarten. »Es ist ein mühsamer Weg«, sagt Ruth Zacharias. Etwa fünf Jahre brauche man, um zu wissen, wie es geht. »Jetzt warten sie anderswo in Deutschland schon auf unsere Erfahrungen.«