Kamelienduft in der Dunkelheit
Sächsische Zeitung, Donnerstag, 03.03.2016: Kamelienduft in der Dunkelheit. Von Jörg Marschner
Ruth Zacharias unterstützt seit 25 Jahren Menschen, die nicht hören und sehen können. Einen Traum will sie noch verwirklichen.
Nur über den Duft, etwa von Kamelienblüten, können Taubblinde einen Garten erleben. Ruth Zacharias, ehemalige Leiterin des Taubblindendienstes im Storchennest Radeberg, beschäftigt diese Idee seit Jahrzehnten.
Nur über den Duft, etwa von Kamelienblüten, können Taubblinde einen Garten erleben. Ruth Zacharias, ehemalige Leiterin des Taubblindendienstes im Storchennest Radeberg, beschäftigt diese Idee seit Jahrzehnten.
In der Größe und der Farbkraft ihrer Blüten kann diese Kamelie mit ihren Nachbarn längst nicht mithalten. Aber in einem übertrifft sie nahezu alle: „Ist das nicht herrlich, dieser Maienduft jetzt im Winter", sagt Ruth Zacharias.
Es ist tatsächlich ein Duft von Frühling, der von den Hunderten kleinen Blüten ausgeht. An dieser inzwischen drei Jahrzehnte alten und sehr groß gewordenen camellia hybrid namens „Duftglöckchen" hängt die kleine Frau ganz besonders. Sie bekam sie vor über 15 Jahren als Geschenk zu ihrem 60. Geburtstag. Im Laufe der Jahre bekam die Pflanze viele Nachbarn, 55 inzwischen. Heute geht es sehr eng zu in der Hälfte des einzigen kleinen Gewächshauses der Gärtnerei. Deshalb bewegt Ruth Zacharias jetzt ein Gedanke: „Ein Kamelienhaus muss her. Das will ich noch schaffen."
Ein höchst erstaunlicher Gedanke einer erstaunlichen Frau. Denn erstens ist Ruth Zacharias seit ihrem zehnten Lebensjahr blind, eine getönte Brille schützt ihre Augen. Und zweitens wird sie im Sommer 76 und hätte nach allem, was sie bisher als ihr Lebenswerk auf die Beine gestellt hat, Ruhe verdient. Aber gerade deshalb ist die Idee eben nicht verrückt, sondern geradezu folgerichtig. Nahezu ihr ganzes Arbeitsleben hat die geborene Mecklenburgerin und studierte Pastorin innerhalb der evangelischen Kirche Taubblinden gewidmet, also Menschen, die nichts hören, nicht sprechen und nichts sehen können. In Radeberg schließlich fand sie ihre endgültige Wirkungsstätte im Taubblindendienst e. V. der Diakonie, den Ruth Zacharias bis voriges Jahr ein Vierteljahrhundert als Geschäftsführerin leitete.
Aus einer zur Ruine verkommenen Villa entstand das 1993 eingeweihte Storchennest als Begegnungsstätte. Hunderte Taubblinde aus der ganzen Republik nutzen hier jedes Jahr die Möglichkeiten für Urlaub, Bildung und Seelsorge. In unmittelbarer Nachbarschaft entstanden zwölf Wohnungen speziell für Taubblinde, die zudem ambulant betreut werden. Und schon seit 1996 erstreckt sich rund ums Storchennest – auch das eine Idee von Ruth Zacharias – der Botanische Blindengarten mit rund 1 300 Pflanzenarten, zumeist Duftpflanzen. „Nur über den Duft der Blüten oder Blätter lässt sich für Blinde überhaupt ein Garten erleben", sagt die Pastorin. Ein rund 800 Meter langer Handlauf aus Edelstahl führt alle sicher durch die Anlage. Vom Frühjahr bis in den Herbst finden die Besucher immer eine Ecke, wo es duftet. „Viele, die zu uns kommen, erleben das zum ersten Mal als wahre Entdeckung, die sie überrascht, in gewisser Weise auch bereichert", erzählt Ruth Zacharias.
Wenn draußen nichts mehr blüht, die Blätter längst gefallen sind und außer den Nadelgehölzen nichts seinen Wohlgeruch preisgibt, laden die Kamelien ins Dufthaus. „Das ist unsere Wintervariante, und unsere Taubblinden sitzen hier furchtbar gern." Manche mit einem kleinen Sehrest helfen dann auch im Gewächshaus, etwa beim Topfen. Von Januar bis April steht das Haus mittwochs und sonnabends nachmittags jedem offen. Zwei Sitzgruppen mit bequemen Korbstühlen laden zur Ruhepause ein. In der einen sitzen an diesem Mittwoch die Richters, ein erst kürzlich nach Radeberg gezogenes älteres Ehepaar, und genießen Kaffee und Kuchen. Die andere Sitzgruppe haben zwei junge Frauen mit ihren kleinen Kindern besetzt. „Ich komm öfter her", sagt die eine, der Duft entwickle sich, sei immer mal wieder anders, und den Jungen ziehe es zu den Kanarienvögeln und ihrem munteren Gezwitscher.
„Sonnabends kommen wir manchmal locker auf hundert Besucher und mehr, oft melden sich auch Gruppen an, da wird es schon richtig eng", sagt Marcel Soblik, der Gärtnermeister, der zusammen mit David Fenk das Gewächshaus und den Blindengarten betreut. Soblik hofft sehr aufs neue Kamelienhaus. „Dann könnten wir endlich einige auspflanzen, jetzt stehen ja alle noch in Kübeln, was nicht unbedingt gut ist." Sie arbeiten kostendeckend. Für Investitionen bleibt kaum etwas.
Ruth Zacharias hat schon mal Auskünfte eingeholt, was das Kamelienhaus kosten würde: „Das sind so an die 165 000 Euro." Und wo kommen die her? „Das ist noch weitgehend offen", gibt sie freimütig zu. Sie weiß, dass das nicht einfach wird mit der Finanzierung, aber das schreckt sie nicht. „Als wir 1988 die Villa übernommen haben, war das nicht anders." Es sei nie einfach gewesen bei dem, was sich rund ums Storchennest für die Taubblinden entwickelt habe. Manches habe länger gedauert als sie erhofft hätten, aber das Ziel hätten sie immer erreicht.